Wahnsinn, vor knapp 8 Wochen dachte ich noch, dass meine Ma mich und diese Welt verlässt. Nach einem Verdacht auf einen Schlaganfall-Aufenthalt im Emder Krankenhaus war sie zunächst wieder total fit und baute dann in einem rasanten Tempo ab. Sie war müde und selbst hin- und hergerissen zwischen „ich will leben“ und „ich bin zu müde“. Und genau wie sie war ich hin- und hergerissen zwischen „bitte, verlass mich jetzt noch nicht“ und „ich möchte nicht, dass Du Dich quälst … und ich kann Dich loslassen“.

Und nun waren also nur einige Wochen vergangen und wir konnten am 27. Juli eine tolle Party zu ihren Ehren feiern. Sie hat es genossen, von 08.30 Uhr bis 24.00 Uhr der Mittelpunkt zu sein und hat mir beim zu Bett gehen ins Ohr geflüstert, dass sie noch nie eine so schöne Geburtstagsfeier gehabt hätte. Am nächsten Tag hat sie dann erst einmal komatös geschlafen und wurde erst abends wach, als wir mit Nachbarn, die leider nicht am Vortag dabei sein konnten, noch einen nachträglichen Absacker nehmen wollten. Es war mir wichtig, ihr diesen Tag so schön als möglich zu gestalten, auf diese Weise „Danke“ zu sagen, jetzt wo sie es noch fühlen und hören konnte und nicht erst auf ihrer irgendwann – hoffentlich in weiter Ferne – stattfindenden Trauerfeier. Deshalb sang der Gospelchor, in dem wir beide Mitglied sind und ein Akkordeonspieler hat wunderschöne Chansons zum Besten gegeben, nach denen wir beide getanzt haben. Es gab tolle Gespräche mit den Gästen und viele zwischen den Gästen, und die waren sehr zahlreich von nah und fern angereist.
Meine Mutter war vor ihrer Krankheit eine starke Frau, die so viel in ihrem Leben und damit auch in unserem Familienleben bewegt hat. Sie war mutig, in dem sie als junge Frau aus der DDR in den Westen geflohen war, ganz alleine, getrennt von der Familie und das nachdem sie als Kind bereits die Flucht aus der Heimat Pommern, den Krieg vor Ort durch den Einmarsch der Russen am eigenen Leib erleben musste. Sie hat sich durchgekämpft und sich mit zwei Jobs – tagsüber war sie zunächst Chefsekretärin in einem Kölner Bekleidungshaus, abends bis in die Nacht hinein hat sie Dissertationen auf der Schreibmaschine geschrieben – eine Existenz aufgebaut, um ihre Schwester und danach dann die Eltern nach zu holen. Später als sie meinen Vater geheiratet hat und für ihn aus Köln, ihrer neuen Heimat, nach Frankfurt am Main, meiner Geburtsstadt, gezogen war, musste sie wieder von vorne beginnen. Neue Bekanntschaften, bis zu meiner Geburt einen neuen Job suchen usw. … egal, was es war, sie ist immer mutig nach vorne gegangen.
Als wir dann 1976 nach Mettmann gezogen sind und mein Vater zeitgleich erst einmal einige Jahre beruflich in Asien war, da musste sie dann ein Haus alleine zu Ende bauen, mit einer pubertierenden Tochter klarkommen und ihre – wie man heute weiß, an Demenz erkrankte – Mutter pflegen.
Sie war stark für mich, wenn ich zu viel Heimweh nach dem heißgeliebten Papa hatte, wenn ich Angst vorm Reiten hatte, mir aber gleichzeitig ein Pferd wünschte … wenn ich Liebeskummer hatte. Und so zog sich ihre Unterstützung durch viele Situationen in unserem Leben.
Sie hat mich in den Hintern getreten als ich in der Woche vor meinem Auslandssemesterstart in Spanien vor lauter Heimweh abbrechen wollte. Später hat sie mir erzählt, dass sie nach diesem Telefonat in den Keller zum Weinen gegangen war. Auf meine Frage, warum sie mich nicht getröstet hätte bzw. mich an diesen Gefühlen in diesem Moment hat teilhaben lassen, sagte sie „welchen Gefallen hätte ich Dir damit getan? Keinen, Du wärst noch trauriger geworden und hättest vielleicht wirklich abgebrochen und schau wie glücklich Du in Spanien warst und wie viele tolle Erfahrungen Du mitgebracht hast“. Stimmt, diese Zeit hat mich sehr geprägt, als Einzelkind mit einer quasi „alleinerziehenden“ Mutter, weil der Vater beruflich immer durch die Welt tourte, war das ein richtiger Abnabelungsprozeß. Es gab kein Internet und kein Handy als ich 1989 für 4 Monate in Salamanca auf Kosten meiner Eltern studieren und mir den Wind um die Nase wehen lassen durfte. Und somit hatte sie natürlich Recht.
Sie war es aber auch, die mir den Kühlschrank in meiner Bude in Köln gefüllt hatte und mir heimlich Geld zugesteckt hatte als mein Vater mir demonstrieren wollte, dass ich sehr risikoreich eine Studentenbude von einer Freundin für ein Semester übernommen hatte und sich der Praktikumslohn plötzlich halbiert hatte, weil das Unternehmen einem weiteren Studenten die Chance auf ein Praktikum geben wollte. Da wurde es für mich tatsächlich finanziell sehr eng … und da war Mutti für mich da … Und nicht nur für mich …
Egal, ob es die deutsch-russische Familie war, die nach Mettmann ausreisen konnte und Hilfe bei Behördengängen und vielem anderen brauchte oder ob es in unserem Dorf Menschen gab, die Hilfe bei Bauanträgen oder anderen Dingen benötigten, sie war immer hilfsbereit, hat so vielen fremden Menschen geholfen, hat sich ehrenamtlich engagiert und war in dieser Hinsicht immer ein Vorbild.
Und falls jetzt der Eindruck entstehen sollte, sie wäre heilig … nein, auch sie hat ihre Fehler und natürlich hatten und haben wir auch eine Menge Reibungspunkte.
Lange hatte ich das Gefühl, dass sie alles besser kann als ich, in sportlicher Hinsicht sowieso, da bin ich eher untalentiert oder sollte ich sagen, da habe ich eher das Nicht-Talent meines Vaters geerbt … das Pferd bockte beim Ausritt, sie flog im hohen Bogen runter, schüttelte sich, lachte und stieg wieder auf … mein Pferd, das ich bei diesem Ausritt reiten durfte, wackelte mit dem Ohr und ich hatte Angstschweiß auf der Stirn und wollte absteigen … wenn sie merkte, dass sie ihre Meinung nicht durchsetzen konnte, dann konnte sie auch schon mal sehr subtil mit Liebesentzug arbeiten und das Schlimmste war, wenn sie sich verletzt fühlte, dann schwieg sie einfach oder antwortete knapp mit einem scharfen Unterton. Wie viel lieber wäre es mir gewesen, wenn sie mir stattdessen einfach eine geschallert und der Fall sich damit erledigt hätte … so ein Schweigegelübde konnte schon mal ein paar Tage gehen … für mich die schrecklichste Strafe überhaupt. Tja und nun ist sie 85 Jahre jung geworden, seit knapp 10 Jahren Witwe und seit ziemlich genau drei Jahren nicht mehr so fit. Mehrere Male gab es in diesen letzten drei Jahren Situationen, die sehr kritisch waren. Situationen, bei denen ich an ihrem Bett saß und egoistisch darum gebettelt habe, dass sie mich noch nicht verlässt, weil sie mir trotz ihrer Krankheit und der damit verbundenen Pflegearbeit, der eingeschränkten eigenen Lebenszeit noch immer so viel Liebe schenkt, wie es wohl nur eine Mutter ihrem Kind schenken kann.

Vor 15 Monaten sind wir nach Norddeich gezogen – auf meinen Wunsch, das erkläre ich zu einem späteren Zeitpunkt – seitdem singen wir bei den Ludgeri Gospel Singers und eines der ersten Lieder, das wir in diesem Chor lernen durften, wurde unser beider Lieblingslied. Auch wenn Du auf Anhieb gar nicht den Text richtig erfassen konntest, liebe Mutti, hat Dich die Melodie angesprochen und ich habe Dir dann den Text erklärt. Mich hat der Text gerührt und er kam zu einem Zeitpunkt in mein Leben als ich dachte, es kann doch nicht wahr sein, wie viel Schei… muss ich noch auf mich nehmen, erdulden? Wird es denn nie besser?
Mutti, Du warst es, die mich schon als kleines Kind an Gott und die Kirche herangeführt hatte, so dass ich als Fünfjährige für eine ganze Weile Pastorin werden wollte. Später haben wir uns beide nicht häufig über unseren Glauben ausgetauscht, er war einfach immer da. Mit unserem Umzug an die Nordsee haben wir jedoch auch wieder die Kirche in unser Leben gelassen. Dein Glaube, Deine Zwiegespräche bzw. Gebete mit Gott, an denen Du mich manchmal teilhaben lässt, überraschen mich immer wieder. Und unser Glaube gibt uns beiden immer wieder die Kraft aufzustehen. Und deshalb war auch ganz klar, dass „On my way“ an diesem 85. Geburtstag gesungen werden musste.

On my way:
I`m on my way , moving in the right direction
Yes, I´m on my way and I know I´ll reach my goal.
Even if the road is rocky and at times so hard to see
I´m trusting that I´m on my way.

I´ve been so sad, I´ve felt so lonely,
there were times I didn´t know which way to go.
It seemed that erverything I did, just would turn out wrong,
and it made me feel oh so low.
But through the storm I still kept standing
and even though it was too dark to see.
I felt your presence deep inside,
in the blackness of the night,
Your hand was still guiding me.

I´m on my way …

Danke liebe Mutti für alles, was ich von Dir lernen durfte und was Du mir gezeigt hast und für die vielen – meist sehr schönen und lustigen – Stunden mit Dir.
DANKE <3